Interview mit Ralf Flinkenflügel: "Ich liebe diesen Job"

Ralf Flinkenflügel inkognito, Foto: Guide Michelin
Thomas Klaus 03.03.2020 MAGAZIN  |  Kochkunst

Ralf Flinkenflügel ist gelernter Koch und Chefredakteur des Guide Michelin Deutschland und Schweiz. Er leitet die anonyme Riege der Restaurant-Tester und ist selbst viel unterwegs, um die besten Restaurants für die jährlich erscheinende „rote Bibel“ zu finden. Im Exklusiv-Interview spricht er über die richtigen Voraussetzungen für seinen Job, über falsche Klischees und aktuelle Trends in der Spitzengastronomie.

KÜCHE: Herr Flinkenflügel, nicht nur Köche fragen sich, ob Restaurant-Tester ein Traumberuf ist. Kostenfreies Essen in führenden Häusern, schöne Reisen ... Wie viel Wahres ist dran? 
FLINKENFLÜGEL:
Der Beruf ist mit vielen falschen Klischees behaftet. Die Michelin-Inspektoren zahlen alle Essen und Übernachtungen. Das ist die Voraussetzung für unsere Unabhängigkeit. Was viele vergessen: Wir empfehlen im aktuellen Guide Deutschland über 1.800 Restaurants. Davon sind nur 309 mit Sternen ausgezeichnet. Das heißt: Wir essen hauptsächlich in eher normalen Restaurants; die Sterne-Restaurants sind die Ausnahme. 
Der Alltag eines Inspektors ist weniger spektakulär, als Sie vielleicht denken: Man ist wochenlang allein unterwegs, inspiziert vormittags Hotels, geht mittags essen, schreibt Berichte, inspiziert nachmittags Hotels, geht abends wieder essen und schreibt erneut Berichte. Das sind lange Tage und das Essen kann körperlich anstrengend sein.

Das ist nachvollziehbar. Wie war das bei Ihnen persönlich: Welcher Berufsweg führte für Sie auf den Stuhl des Chefredakteurs? Und haben Sie Ihren Traumberuf gefunden?
Mein Traum war es, Hoteldirektor zu werden. Deshalb habe ich zuerst eine Hotelfachschule besucht und anschließend eine Ausbildung zum Koch – übrigens in einem Sterne-Restaurant – und zum Hotelfachmann absolviert. Auch beim Bund habe ich gekocht, im Offizierskasino. Nach verschiedenen Stationen in der gehobenen Gastronomie in Deutschland, London und zudem auf dem Kreuzfahrtschiff Queen Elisabeth II. habe ich ein Restaurant mit 40 Mitarbeitern geleitet. Zu dieser Zeit kam über einen Freund der Kontakt zum Guide Michelin zustande. Hier bin ich jetzt seit 26 Jahren, davon 16 Jahre als Inspektor und inzwischen zehn Jahre als Chefredakteur beziehungsweise Direktor. Und ja, das ist mein persönlicher Traumberuf. Ich liebe diesen Job. 

Sind Sie denn heute auch selbst noch als Inspektor im Einsatz?
Aufgrund meiner administrativen Verpflichtungen teste ich nur noch Restaurants, gebe mich dort aber so gut wie nie zu erkennen. 

Verraten Sie uns doch bitte, was die wesentlichen Voraussetzungen sind, die für eine Tätigkeit als Restaurant-Tester erfüllt werden müssen?
Um Michelin Inspektor zu werden, müssen Sie eine Ausbildung als Koch, Restaurant- oder Hotelfachmann/-frau haben. Außerdem erwarten wir einige Jahre Berufserfahrung in der internationalen Spitzengastronomie oder –hotellerie. Natürlich müssen Sie verrückt nach gutem Essen sein; anders geht es gar nicht. Wir brauchen Menschen, die sowohl teamfähig sind, aber auch mit den Reisephasen, in denen sie alleine sind, gut zurechtkommen. Und mit den Arbeitszeiten. Sie müssen diskret und bescheiden auftreten, Fingerspitzengefühl haben. Laute „Hoppla-jetzt-komm-ich-Typen“ können wir nicht gebrauchen.

Werden die Restaurant-Tester des Guide Michelin vor ihrem ersten Einsatz besonders geschult?
Neue Inspektoren fahren zunächst ein halbes Jahr lang mit einem erfahrenen Inspektor mit und lernen sozusagen „on the job“. Sie bestellen im Restaurant immer beide dasselbe und tauschen sich darüber aus. So werden die Sinne geschult und es hilft auch, das Geschmeckte und Erlebte in aussagekräftige Berichte zu gießen. 

Wie viele Inspektoren sind im Einsatz?
Für die beiden Guides Michelin Deutschland und Schweiz 2019 waren insgesamt 18 Inspektoren aus fünf Ländern unterwegs. 

Wie läuft eine Testrunde genau ab?
Unsere Inspektoren testen querbeet alle Restaurants: die Empfehlungen mit Teller, Bib-Gourmand-Adressen und Sterne-Restaurants. Wenn es um Sterne geht, testen wir ein Restaurant mehrmals mit verschiedenen Inspektoren. Es gibt keine feste Anzahl; das Ergebnis muss nur eindeutig sein. Wenn die Inspektoren sehr unterschiedliche Erlebnisse haben, vergeben wir den Stern nicht, weil die Küchenleistung noch nicht ausreichend beständig ist.

Ist es schon einmal vorgekommen, dass ein Restaurant einen vom Guide Michelin verliehenen Stern abgelehnt hat?
Die Michelin Sterne lösen eher Freude bis Begeisterungsstürme aus. In Deutschland ist es noch nicht vorkommen, dass ein Restaurant einen Stern ablehnen wollte. Es kommt schon mal vor, dass Häuser uns nicht den Fragebogen mit den Angaben zu ihren Öffnungszeiten, Ruhetagen usw. zurückschicken, so dass wir sie aufgrund der fehlenden Informationen nicht in den Guide aufnehmen können, aber das ist eher die Ausnahme. Und auch, wenn es immer wieder so dargestellt wird: Man kann keine Sterne zurückgeben. Die Sterne sind ein verlegerisches Symbol, das den Lesern des Guide Michelin auf einen Blick zeigen soll, wo sie sehr gut, außergewöhnlich gut oder herausragend essen können.

Was sind aktuell die wichtigsten Trends in der deutschen Spitzengastronomie?
Die Trends ändern sich nicht jährlich, sondern entwickeln sich in einem langsamen Prozess. Der Trend zum sogenannten Casual Fine Dining ist ungebrochen, das heißt eine Küche auf hohem Niveau in lässiger, unkomplizierter Atmosphäre und ungezwungenem Ambiente. Dieser Trend spricht besonders eine junge Klientel an. 

Gilt das auch für vegetarische und vegane Restaurants?
Vegetarisches und veganes Essen ist auf jeden Fall ein Trend, den die Restaurants erkannt haben und berücksichtigen. Viele Menschen wollen gerne rein pflanzliche Gerichte ausprobieren, sei es aus Neugier, sei es aus dem Bewusstsein heraus, dass es nachhaltiger ist. Rein vegetarische bzw. vegane Restaurants können sicher nur dort funktionieren, wo die Nachfrage ausreichend groß ist, aber Restaurants, die sowohl Fleisch- und Fisch-Gerichte als auch vegetarisch-vegane Menüs auf gutem Niveau anbieten, finden wir immer häufiger, und das ist auch gut so. Eine tolle Bereicherung!

Welche Trends machen Sie noch aus?
Wir beobachten auch schon seit Längerem mehr Kreativität und die Verarbeitung von weniger bekannten Produkten bei den Beilagen. Das bereichert sich gegenseitig und passt gut zum Trend der Nachhaltigkeit. Viele Köche und Gastronomen beschäftigen sich heute stärker mit der Herkunft ihrer Produkte, arbeiten direkt mit den Erzeugern zusammen, bauen selbst Gemüse, Kräuter oder Obst an und achten auf Regionalität – kurze Wege, frische Ware. Auch wichtig: die Rückbesinnung darauf, Tiere ganz zu verarbeiten und nicht nur die Filetstücke. Das ist nicht nur aus ethischen und nachhaltigen Gründen wichtig, sondern auch wirtschaftlich. Last but not least wird dies alles getragen von einer ganzen Reihe junger, hervorragend ausgebildeter, talentierter und motivierter Küchenchefs, die auch versuchen, eine neue Work-Life-Balance in den Beruf zu bringen.

Stichwort Sterne-Köchinnen: Können wir künftig mit mehr Frauen in der Spitzengastronomie rechnen?
Das hängt alles davon ab, wie es mit der Ausbildung zum Koch bzw. zur Köchin weitergeht. Leider treten immer weniger junge Leute diese Ausbildung an, und nicht einmal die Hälfte der Koch-Azubis sind Frauen. Hinzu kommt, dass viele angehende Köche ihre Ausbildung abbrechen. Insgesamt ist der Fachkräftemangel in der Gastronomie besorgniserregend und ein echtes Problem. Wir sehen allerdings auch, dass bei den Azubi- und Nachwuchswettbewerben der Branche häufig Frauen gewinnen oder gleich alle Spitzenplätze belegen. Sie sind sehr gut ausgebildet und haben handwerklich auf jeden Fall das Zeug für mehr.

Vielen Dank für das Gespräch.