"Naturwissenschaftliches Denken erlaubt mehr eigene Kreativität"

Prof. Dr. Thomas Vilgis: "Essen heilt weder Krebs noch eine Erkältung." Foto: Vilgis
Thomas Klaus und Petra Münster 26.05.2023 MAGAZIN  |  Konzepte  |  AKTUELLES  |  News

Köchinnen und Köche mit naturwissenschaftlichem Hintergrundwissen bekommen Zugang zu einer Welt beinahe grenzenloser kulinarischer Ideen, findet Professor Dr. Thomas Vilgis. Im Interview spricht der Experte für Lebensmittelphysik unter anderem über die Profiküche der Zukunft, Restaurants als Kulturstätten und eine mythenbelastete Ernährungsforschung.

KÜCHE: Warum ist es auch für Kochprofis sinnvoll, sich mit der Wissenschaft zu beschäftigen? 
PROF. DR. THOMAS VILGIS: Es ist wichtig zu wissen, warum man etwas genauso macht, wie man es macht. Dies gilt für alle Berufszweige. Ist das Warum, Wieso, Weshalb verstanden, leiten sich daraus zig neue Ideen ab, erst recht beim Kochen. Lebensmittel machen es uns einfach.

Warum machen Lebensmittel das besonders einfach?
Die bestehen alle lediglich aus Protein, Kohlenhydraten, Fett und Wasser. Alles Weitere ergibt sich daraus. Weiß man also, wie sich diese Bestandteile verhalten, wie sie verteilt sind, lassen sich dadurch eine ganze Reihe möglicher Zubereitungstechniken erkennen. „Trial and error“ (Versuch und Irrtum) ist kaum mehr nötig. Ich erinnere mich an die Molekularküchenzeit, als die Sous-vide-Methode Einzug erhielt. Viele wunderten sich in einschlägigen Internetforen, dass die bei Fleisch bewährten Temperaturen bei Gemüse nicht funktionieren. Der Grund liegt einfach im grundsätzlich verschiedenen (molekularen) Aufbau von Pflanzen- und Muskelzellen.

Okay. Also könnten Köchinnen und Köche durch naturwissenschaftliches Know-how ihr Handwerk optimieren?
Ein gewisses naturwissenschaftliches Denken erlaubt mehr eigene Kreativität und ein zielgerichtetes Umsetzen der Ideen. Die Lebensmittel erzählen über ihren Aufbau und ihre Zusammensetzung selbst, was man mit ihnen küchentechnisch anstellen kann. Egal ob roh, gekocht und fermentiert, jedes Eingreifen in der Küche provoziert gewisse molekulare Reaktionen in den Lebensmitteln. Köche entscheiden dann schnell, welche molekularen Reaktionen sie zulassen möchten. Die Summe dieser molekularen Veränderungen definiert allein das Resultat – ausgedrückt in Geschmack, Aroma, Textur. Das zu lernen ist zwar mühsam, aber der Lohn und Gewinn, über die sich daraus ergebenden Ideen, sind grenzenlos. Diese winzigen Erfolgserlebnisse steigern ganz nebenbei die Motivation für den „Knochenjob“. Hier sind sich Profiküchen und wissenschaftliche Labore sehr ähnlich. Beide lassen sich nicht mit einem Nine-to-five-Job und einer 30 Stunden-Woche betreiben. Die Bilanz zeigt immer deutlich mehr Work als Life.

Wie stellen Sie sich die Profiküche der Zukunft vor? Was müsste sie bieten – worauf könnte sie verzichten?
Ich denke, die Spitzenküche ist bereits auf einem guten Weg. Nachhaltigkeit, Regionalität und Gesamtverwertung von Pflanzen und Tieren werden immer wichtiger. Eine engere Beziehung zwischen (Spitzen)Küchen und Landwirtschaft ist notwendig und für die Zukunft unabdinglich. Restaurants sind Kulturstätten und ihre Brigaden Kulturschaffende – das darf nie vergessen werden. Was in Deutschland leider fehlt, ist das Bewusstsein dafür. International gibt es keine Identität der „Deutschen Küche“, im Gegensatz zu andern benachbarten Ländern. Dies zu schaffen, können Köche nicht alleine leisten. Das sind politische Aufgaben, für die es aber hierzulande keine Leitfiguren gibt. Dabei hätte Deutschland mit seinen Sterneköchen viele hochkarätige Botschafter, die jedem internationalen Vergleich standhalten.

Wie stehen Sie zu vegetarischer und veganer Ernährung? Hat Fleisch überhaupt noch eine Zukunft in der Profiküche? 
Ich bin sehr offen für vegetarische und vegane Strömungen. Die unsägliche Massentierhaltung kann ohnehin nicht so weitergehen, nicht nur wegen Ressourcen und Klimawandel. Allerdings ist eine streng vegane Ernährung eine Form, die ohne Supplementierung nicht auskommt, und daher für mich mit Blick auf die Evolution des Homo sapiens fragwürdig. Menschen sind letztlich Säugetiere, die auf dem langen Weg der Evolution zu Omnivoren wurden, mit allen Vor- und Nachteilen. Daher sollte Fleisch in der Profiküche immer eine Rolle spielen. Nicht die Hauptrolle, nicht das 400-Gramm-Beef aus fragwürdiger Herkunft, sondern akzentuiert und nachhaltig. Allerdings begrüße ich es sehr, wenn Spitzenköche vegane Menüs kreieren, die hochgradig spannend sind. Sie zeigen, was mit modernen Koch- und Fermentationstechniken möglich ist, um hohen Genuss zu vermitteln. Auch dies öffnet Augen und zeigt das riesige Potenzial von Gemüse, Getreide, Saaten und Co, das weit über das von Fleisch hinausgeht. Diese Ansätze sind auch für alle eingefleischten Fleischesser willkommene Alternativen und Anregungen.

Sie kritisieren die Ernährungsforschung für ihren Anteil an der Verbreitung von Ernährungsmythen. Welche richten den größten Schaden an?
Ein unendliches Thema. Erinnert sich jemand an die Cholesterindiskussion? An die Verteufelung einzelner „ungesunder“ Lebensmittel? Oder Aussagen der Boulevardpresse, eine Handvoll Nüsse senke das Risiko für Herzkreislaufkrankheiten um so und so viel Prozent? Das ist Unfug. Liest man die Studien im Original, bleibt nichts davon übrig. Leider gibt es auch unzählige Studien, die statistisch unsauber arbeiteten. Diese wiederum beeinflussen groß angelegte Metastudien, das heißt, die Fehler pflanzen sich unter Umständen fort.

Ein Beispiel ist die grundsätzliche Verteufelung der tierischen Fette, Butter und Schmalz. Wenn man berücksichtigt, dass unsere menschlichen Zellmembranen, um bei konstant 37 Grad gut zu funktionieren, ein ausgewogenes Verhältnis von gesättigten (!) und einfach ungesättigten Fettsäuren sowie Cholesterin als lokales Membransteuerungselement benötigen, dann schließt das eine generelle Verunglimpfung allein aus biophysikalischen Gründen aus. Dass Pflanzen mehr vermeintlich gesunde Phytosterole haben, liegt eben an dem breiten Temperaturbereich, den Pflanzenmembranen aushalten müssen: von kühlen Nächten bis heißen Nachmittagstemperaturen. Die Verteufelung von Innereinen war ein weiterer sehr großer Fehler.

Gibt es noch mehr?
Besonders gefährlich werden Ernährungsmythen immer dann, wenn esoterische Komponenten herangezogen werden. Essen heilt weder Krebs noch eine Erkältung, auch wenn es im Fernsehen so behauptet wird. Gesunde Ernährung ist im Grunde ganz einfach: saisonal, regional, vielfältig, roh, gekocht, fermentiert, selbst gekocht, kein Convenience-Food. Mehr braucht es nicht. Unsere Evolution beweist das. 

Womit sollte sich Ernährungsforschung stattdessen befassen? Wo sehen Sie besonderen Handlungsbedarf?
Ernährungsforschung ist hochgradig komplex und erfordert das Zusammenführen vieler Wissenschaftsdisziplinen in der Grundlagenforschung, was in der Vergangenheit nur an wenigen Universitäten und Forschungsverbünden gemacht wurde. Aber hier ist die Wissenschaft auf einem guten Weg. Die biophysikalischen und biochemischen Schnittstellen zwischen Mikrobiom und Physiologie sind nach wie vor ein großes Rätsel, die Kopplung über Botenstoffe ans Gehirn offene Fragen. Kein Wunder, denn das Mikrobiom ist so individuell wie Fingerabdrücke und DNA. Allein das zeigt, wie unsinnig die Diskussionen um Diät, Ernährungsform, Keto-, Low-carb, usw. sind. Selbst die hin und wieder gehypte personalisierte Ernährung bleibt fragwürdig, vielleicht sogar genussfeindlich. Ernährungswissenschaften müssen künftig multidisziplinärer werden. 

Apropos Genuss: Was ist Ihr persönliches Lieblingsgericht?
Voilà, was für eine Frage an einen „Allesfresser“. Vieles esse ich sehr gern. Aber ganz stark bleibt die Prägung. Bis heute esse ich immer gern alle Innereien, inklusive Kutteln. Leider traut sich heute kaum noch jemand, dies zu kochen, geschweige denn zu essen. Dabei ist eine Blutwurst genussvoller als jede Eisentablette, eine Fischleber biologisch hochwertiger und schmackhafter als jede Omega-3-Fettsäurenpille plus Vitamin-D Supplement. Das wussten übrigens schon unsere ganz alten Vorfahren, ganz ohne Ernährungsforschung, allein aus ihrer Erfahrung und dem ausgeprägten Körpergefühl, das rein gar nichts mit dem Selbstoptimierungswahn dieser Tage zu tun hat.

Mehr zum Thema "Kochen trifft Wissenschaft" finden Sie in KÜCHE 6/2023. 


ÜBER THOMAS VILGIS
Jahrgang 1955
Der Physiker Prof. Dr. Thomas A. Vilgis leitet die Arbeitsgruppe „soft matter food science“ am Max-Planck-Institut für Polymerforschung in Mainz. Vilgis diplomierte und promovierte an der Universität Ulm, habilitierte in Mainz in Theoretischer Physik und arbeitete in Cambridge, London und Strasbourg. Derzeit ist er als Professor für Theoretische Physik an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz tätig und lehrt zudem an der Justus-Liebig-­Universität Gießen im Bereich Ernährungswissenschaften, Lebensmitteltechnologie und Food Physics. Der begeisterte Hobbykoch hat neben zahlreichen wissenschaftlichen Arbeiten auch mehrere Bücher veröffentlicht, darunter „Aroma  Gemüse – der perfekte Weg zum Geschmack“ (2017) und „Aroma – die Kunst des Würzens“ (5. Aufl. 2020), die u. a. mit dem Gourmand World Cookbook Award und der Goldenen Feder ausgezeichnet wurden. Vilgis ist zudem Mitherausgeber der Zeitschrift „Journal Culinaire – Kultur und Wissenschaft des Essens“.
www.mpip-mainz.mpg.de