Ivo Rzegotta ist verantwortlich für die Arbeit des Good Food Institute Europe (GFI Europe) in der DACH-Region. Das GFI setzt sich für "Future Food" auf der Basis von Fermentation und Zellkultivierung ein. Im Interview spricht der Experte über den Status quo, die Hürden auf dem Weg zur Marktreife und vor altem über die Rolle der Köchinnen und Köche in diesem Prozess.
KÜCHE: Herr Rzegotta, in welchem Entwicklungs-Stadium befinden sich fermentierte und zellbasierte Lebensmittel derzeit?
IVO RZEGOTTA: Lebensmittel auf der Basis moderner Fermentationsverfahren und kultiviertes Fleisch befinden sich im Übergang von der Forschungs- und
Entwicklungsphase zur Marktreife. In den letzten Jahren gab es große technologische Durchbrüche, und immer mehr Unternehmen erschließen diese neuen Märkte. Derzeit sind jedoch viele dieser Lebensmittel in der Herstellung noch deutlich teurer als ihre tierischen Pendants, sodass sie noch nicht im Einzelhandel verkauft werden können. Zudem werden sie oft noch nicht in ausreichenden Mengen produziert.
Von Produkt zu Produkt gibt es große Unterschiede?
In der Tat. Wann diese Lebensmittel Preis- und Geschmacksparität erreichen, ist von Produkt zu Produkt sehr unterschiedlich und hängt auch davon ab, wieviel in den kommenden Jahren öffentlich und privat in diesen Bereich investiert wird.
Wie sieht es konkret bei kultiviertem Fleisch aus?
Für kultiviertes Fleisch gibt es bereits erste Zulassungen in den USA, Singapur, Israel und Hongkong. In Europa wurden erste Zulassungsanträge eingereicht, deren Bearbeitung jedoch noch einige Zeit in Anspruch nehmen dürfte. Ähnlich verhält es sich bei Lebensmitteln aus Präzisionsfermentation, wie etwa tierfreiem Käse.
Inwiefern spielt die Gastronomie eine Schlüsselrolle bei der Markteinführung?
Die Markteinführung dieser Produkte erfolgt meist nicht über den Einzelhandel, sondern über die Gastronomie. Ob pflanzenbasierte Steaks aus dem 3D-Drucker, zellkultivierter Lachs oder tierfreier Käse aus der Präzisionsfermentation - häufig sind es gehobene Restaurants, in denen Verbraucherinnen und Verbraucher diese Produkte zum ersten Mal probieren können. Erst wenn sich die Produkte dort bewährt haben und preislich wettbewerbsfähig sind, werden sie in Supermärkten und Discountern gelistet.
Wie profitieren Profiköche und Gastronomen von dieser Entwicklung - und was können sie selbst dazu beitragen?
Der technologische Fortschritt in diesem Bereich eröffnet völlig neue Möglichkeiten für kulinarische Kreativität und ist gleichzeitig ein entscheidender Schritt in Richtung Nachhaltigkeit. Köche und Gastronomen profitieren, indem sie nachhaltige Zutaten mit innovativen Geschmacksprofilen erhalten. Sie können ihre Speisekarten um umweltfreundliche Alternativen erweitern und sich als Vorreiter moderner Ernährungskonzepte positionieren.
Köchinnen und Köche spielen bei der Einführung dieser Lebensmittel in den Alltag eine zentrale Rolle. Dies gilt zum einen für die bereits erwähnte Markteinführung über die Gastronomie. Gastronomen und Köche können aktiv mit Herstellern kooperieren, um praxisnahe Rückmeldungen zur sensorischen Qualität und Zubereitung zu geben.
Noch wichtiger aber ist ihre Rolle bei der Normalisierung nachhaltiger Alternativen in der Breite. In Deutschland werden täglich rund 40 Millionen Mahlzeiten in der Außer-Haus-Verpflegung serviert, doch Alternativen zu Fleisch- und Milchprodukten spielen dabei bislang nur eine untergeordnete Rolle. Dies sollte sich ändern - und hier können Köchinnen und Köche einen entscheidenden Beitrag leisten.
"Moderne Fermentationsverfahren und Zellkultivierung zielen darauf ab, Inhaltsstoffe zu entwickeln, die sich genauso verhalten wie ihre tierischen Pendants - oder diese in der Performance sogar übertreffen."
Welche besonderen Vorteile sehen Sie bei Fermentation und Kultivierung?
Fermentation und Kultivierung sind junge Wirtschaftsbereiche und solange die Produktion nicht skaliert ist, können die Nachhaltigkeitsvorteile nur geschätzt werden. Doch die bislang belastbarsten Studien zum ökologischen Fußabdruck zeigen bereits enormes Potenzial: Kultiviertes Fleisch könnte die Treibhausgasemissionen im Vergleich zu herkömmlichem Rindfleisch um bis zu 92 Prozent reduzieren, sofern erneuerbare Energien eingesetzt werden. Auch bei tierfreiem Käse aus Präzisionsfermentation liegt die Einsparung bei über 90 Prozent.
Hinzu kommen Pluspunkte für die Gesundheit?
Richtig, auch gesundheitlich bieten diese Lebensmittel viele Vorteile. Schon pflanzliche Alternativprodukte sind - entgegen mancher Vorurteile - in der Regel gesünder als ihre tierischen Pendants, mit höherem Ballaststoffgehalt und oft geringerem Salz- und Fettanteil. Neuartige Lebensmittel auf Basis von Fermentation und Kultivierung könnten diese gesundheitlichen Vorteile noch weiter ausbauen, indem sie den Verarbeitungsgrad reduzieren und gezielt
nährstoffoptimierte Produkte ermöglichen.
Einige Köchinnen und Köche befürchten sensorische und qualitative Einbußen bei der Verwendung dieser neuen zellkultivierten oder fermentierten Produkte. Was sagen Sie dazu?
Köchinnen und Köche sind immer noch zurückhaltend bei Alternativen zu tierischen Produkten, da diese manchmal an ihre Grenzen stoßen, wenn es um authentischen Geschmack, Koch- und Schmelzeigenschaften geht. Hier kommen die neuen Technologien ins Spiel: Moderne Fermentationsverfahren und Zellkultivierung zielen darauf ab, genau diese Herausforderungen zu lösen und Inhaltsstoffe zu entwickeln, die sich genauso verhalten wie ihre tierischen Pendants - oder diese in der Performance sogar übertreffen. Ein Beispiel: Durch Präzisionsfermentation lässt sich sogenanntes Häm herstellen, das das Geschmacksprofil von pflanzlichem Fleisch verbessert und für eine authentische Farbe sorgt, die sich beim Braten verändert.
"Köche profitieren, indem sie nachhaltige Zutaten mit innovativen Geschmacksprofilen erhalten. Sie können ihre Speisekarten um umweltfreundliche Alternativen erweitern und sich als Vorreiter moderner Ernährungskonzepte positionieren."
Welche Hürden und Hindernisse gibt es auf dem Weg zur Marktreife?
Es gibt zwei wesentliche Herausforderungen. Zum einen sind die Herstellungskosten derzeit noch hoch, da die Produktion bislang nur im kleinen Maßstab erfolgt. Erst durch Skalierung werden die Produktionskosten sinken, sodass die Produkte für die breite Bevölkerung erschwinglich werden. Politische Entscheidungsträger sollten diesen Prozess unterstützen, indem sie verstärkt öffentliche Forschung fördern und durch gezielte Maßnahmen das Investitionsrisiko für Unternehmen verringern. Erste Maßnahmen wurden
ergriffen, doch Deutschland liegt hier im europäischen Vergleich noch nicht an der Spitze.
Zum anderen müssen viele dieser Produkte erst zugelassen werden, bevor sie in der EU auf den Markt kommen können. Das Novel-Food-Zulassungsverfahren auf europäischer Ebene umfasst eine gründliche Bewertung von Sicherheit und Nährwerten. Dieses Vorsorgeprinzip ist grundsätzlich sehr sinnvoll, um Vertrauen zu schaffen. Allerdings ist das Verfahren in der EU theoretisch auf 18 Monate angelegt, dauert in der Praxis aber oft mehrere Jahre. Hier könnte die Politik helfen, indem sie das Verfahren innerhalb des bestehenden Rechtsrahmens effizienter gestaltet und Start-ups gezielt dabei unterstützt, qualitativ hochwertigere Zulassungsanträge einzureichen.
Was kann die Politik darüber hinaus tun?
Maßnahmen ergreifen, um diese Alternativen stärker in den Ernährungsgewohnheiten der Gesellschaft zu verankern, zum Beispiel durch eine stärkere Berücksichtigung in der Ausbildung von Köchen oder die Integration pflanzlicher und kultivierter Alternativen in die Gemeinschaftsverpflegung, zum Beispiel in Schulen und Krankenhäusern.
Vielen Dank, Herr Rzegotta.
IVO RZEGOTTA
Ivo Rzegotta arbeitet für das Good Food Institute Europe (GFIEurope), einem gemeinnützigen Think Tank, der sich mit Fleisch-, Fisch-, Eier- und Milchprodukten auf Basis von Pflanzen, Fermentation und Kultivierung beschäftigt. Die Arbeit des GFI ist spendenfinanziert. Bei GFI Europe verantwortet er die Arbeit im DACH-Raum. Zuvor war Rzegotta beim Luftverkehrsverband BDL und in der Politik- und Kommunikationsberatung tätig, unter anderem für Unternehmen aus den Bereichen Handel und Logistik.
Dieser Artiel erschien erstmals in KÜCHE 4/25.