"Nicht reden, sondern machen"

Rainer Roehl: "Inzwischen ist eine nachhaltige Ausrichtung nicht mehr nur wesentlich, sondern normativ und damit von einem 'Kann' zu einem 'Muss' geworden." Foto: A´verdis
Redaktion 04.04.2024 MAGAZIN  |  Titelthema  |  Konzepte  |  AKTUELLES  |  News

Rainer Roehl ist Vordenker, Ideengeber und Wegbereiter für einen nachhaltigen Außer-Haus-Markt. Der Ernährungswissenschaftler berät seit gut 40 Jahren Gastronomie und Gemeinschaftsverpflegung und verbindet Genuss und Gesundheit mit ökonomischer, ökologischer und sozialer Verantwortung zu einem ganzheitlichen Konzept.

KÜCHE: Herr Roehl, wie nachhaltig sind Gastronomie und Gemeinschaftsverpflegung in Deutschland bereits aufgestellt?
RAINER ROEHL: Das lässt sich nicht pauschal sagen. Erstens: Was heißt „nachhaltig ausgerichtet“ überhaupt? Ist mein Betrieb bereits nachhaltig ausgerichtet, wenn ich Kartoffeln in Bioqualität, Kaffee aus fairem Handel und Rindfleisch aus artgerechter Tierhaltung einkaufe? Oder wenn ich meine Speisenrückläufe um 10 Prozent reduziert habe? Oder wenn mein Angebot zu mehr als der Hälfte vegetarisch oder vegan ist? Oder wenn meine Gerätetechnik beim Energieverbrauch auf dem neuesten Stand ist? Zweitens: Was unterscheidet „Nachhaltigkeit“ von „guter fachlicher Praxis“? Lebensmittelabfälle zu vermeiden und nicht täglich Fleisch anzubieten ist doch gute fachliche Praxis, oder? Und drittens: Braucht es ein Nachhaltigkeitszertifikat oder ein Green Label, um nachhaltig zu sein? Es ist abzusehen, dass die Zahl der sogenannten Green Label weiter wachsen wird. Es entsteht inzwischen eine eigene Nachhaltigkeits-Zertifizierungsindustrie. Und wenn ich mir anschaue, was mittlerweile alles als nachhaltig beworben wird, dann ist die Behauptung sicher nicht falsch, dass dieser rechtlich nicht geschützte Begriff das schönste Geschenk ist, das die Marketingabteilungen in den letzten Jahrzehnten bekommen haben.

Was sind aus Ihrer Sicht die zentralen Merkmale einer nachhaltigen Küche?Grundsätzlich geht es darum, die für eine gastronomische Dienstleistung zentralen Aspekte Genuss, Service und Ambiente mit wirtschaftlicher, ökologischer, sozialer und gesundheitlicher Verantwortung zu verbinden. Aber was heißt das konkret bzw. für die operative Umsetzung? In welchen Bereichen kann ich Einfluss nehmen und welche Maßnahmen sind wirklich wichtig und wirksam und vor allem wesentlich für eine gastronomische Dienstleistung? Zentral sind ohne Frage der Lebensmitteleinkauf und das Speisenangebot. Beides zusammen ist das Herzstück einer jeden Gastronomie, egal ob Kitaverpflegung oder Drei-Sterne-Gastronomie. Mit anderen Worten: Eine nachhaltige, ökologisch ausgerichtete Beschaffung und eine nachhaltig ausgerichtete Speiseplanarchitektur sind die zentralen Eckpfeiler einer nachhaltig ausgerichteten Küche. Technische und strukturelle Aspekte, wie zum Beispiel ressourcenschonende Prozesse und Geräte sowie Kommunikations- und Bildungsaspekte wie Mitarbeiterentwicklung, sind ebenfalls wichtig und runden die nachhaltige Ausrichtung ab.

In der Gemeinschaftsverpflegung scheint nachhaltiges Essen besser funktionieren als in der Gastronomie. Trifft das zu?
Das würde ich so nicht sagen. Es gibt die Bio-Hotels, die Betriebe der Slow Food Chef Alliance, die Motel One Gruppe mit einem tollen Bio-Frühstücksangebot und einige mehr. Aber es ist schon richtig, dass Betriebe der Gemeinschaftsverpflegung, also Kitas, Schulen, Mensen und Kantinen, stehen stärker im Fokus der Politik und der verschiedenen Anspruchsgruppen. Umwelt- und Gesundheitsaspekte spielen hier seit jeher eine größere Rolle. Und wenn sich ein Unternehmen „klimafreundlich“ aufstellen will, betrifft das eben auch die Betriebsgastronomie.

Wie unterscheiden sich Gastronomie und Gemeinschaftsverpflegung in dieser Hinsicht?
Die Gemeinschaftsverpflegung hat sicher eine deutlich höhere gesundheitliche Verantwortung als die Individualgastronomie, denn hier werden Gäste täglich und teilweise über Jahre oder sogar Jahrzehnte versorgt. Aber, und hier sprechen die Marktdaten eine klare Sprache, die Pommes-, Burger-, Pizza- und Döner-getriebene Marken- und Systemgastronomie hat insgesamt einen deutlich größeren Einfluss auf die Ernährung als Kitas, Schulen, Mensen und Kantinen zusammen.

Wie schätzen Sie die Veränderungsbereitschaft der Branche ein? Ist Nachhaltigkeit noch ein Trendthema oder schon die Trendwende?
Ich würde hier nicht von einem Trendthema sprechen. Ja, der Begriff wird mittlerweile inflationär verwendet und nicht selten auch missbraucht. Aber inzwischen ist eine nachhaltige Ausrichtung nicht mehr nur wesentlich, sondern normativ und damit von einem „Kann“ zu einem „Muss“ geworden.

Wie wird eine Küche nachhaltig? Was sind wichtige erste Schritte?
Es gibt mehr als hundert Einzelmaßnahmen, die zu einer nachhaltigen Ausrichtung beitragen können. Die Frage ist aber, welche Maßnahmen wirklich wichtig und wirksam und wesentlich für eine gastronomische Dienstleistung sind. Hier würde ich fünf Maßnahmen nennen, die jeder gastronomische Betrieb umsetzen sollte.

  1. Den Lebensmitteleinkauf nachhaltig ausrichten, d. h. verstärkt Produkte aus ökologischer Erzeugung, fairem Handel und artgerechter Tierhaltung einsetzen. Und natürlich auch verstärkt regional einkaufen, aber weniger aus ökologischen Gründen, sondern vielmehr, um die regionale Wirtschaft und die damit verbundenen Arbeitsplätze zu erhalten.

  2. Das Speisenangebot verstärkt vegetarisch bzw. pflanzenbasiert ausrichten. Das geht auch in Steakhäusern und Burger-Restaurants.

  3. Die Prozesse so gestalten, dass möglichst wenig Lebensmittelabfälle entstehen. Hier geht es vor allem um die Speisenrückläufe auf Tellern und Tabletts. Einer der wichtigsten Hebel überhaupt.

  4. Wenn möglich erneuerbare Energien beziehen und ansonsten bei Neuanschaffungen auf energie- und wassersparende Gerätetechnik setzen.

  5. In der Kommunikation weniger die Gäste, sondern vielmehr die Mitarbeitenden in Küche und Service adressieren, denn nur gut informierte und motivierte Mitarbeitende sind willens und in der Lage, qualitativ hochwertige Speisen zuzubereiten, effektive Arbeitsabläufe umzusetzen und einen gastorientierten Service zu bieten.

Und was zeichnet eine gute Gästekommunikation aus? 
Meiner Meinung nach zwei Worte: ehrlich und transparent. Eine nachhaltige Entwicklung ist zu wichtig für Marketing-Mätzchen. Den Satz „Tue Gutes und rede darüber“ würde ich ändern in „Nicht reden, sondern machen“. Es liegt nicht in der Verantwortung des Gastes, sich in der Mensa, Kantine oder im Restaurant nachhaltig zu verhalten, sondern in der Verantwortung der Küche, den Gast mit einem nachhaltig ausgerichteten Angebot zu begeistern. Oder anders gesagt: Pommes gehen immer, müssen aber nicht immer sein.

Inwieweit ist ein Plus an Nachhaltigkeit kostenneutral möglich? 
Wer behauptet, Nachhaltigkeit sei immer teuer, hat nicht verstanden, was Nachhaltigkeit bedeutet. Lebensmittelabfälle zu vermeiden, kostet kein Geld, sondern spart Geld. Einfache, aber attraktive pflanzliche Gerichte anzubieten, kostet kein Geld, sondern spart Geld. Energie und wassersparende Gerätetechnik kostet auf lange Sicht kein Geld, sondern spart es. Und schließlich: Regelmäßige, kurze und wertschätzende Mitarbeiterbriefings kosten kein Geld, sondern motivieren das Team. Gute Lebensmittel, also solche aus regionaler ökologischer Erzeugung, fairem Handel oder artgerechter Tierhaltung sind selbstverständlich teurer als solche aus der globalen oder regionalen Massenproduktion. Und mitunter, wenn ich an Bio-Geflügel denke, auch sehr viel teurer. Aber es geht doch nicht darum, einen Betrieb von heute auf morgen nachhaltig umzustellen. Es geht um eine nachhaltige Entwicklung und die kann schneller oder langsamer gehen, je nach Willen der Entscheider und je nach betrieblichen Rahmenbedingungen. Ich würde sagen: 10 Prozent Lebensmittel in Bioqualität, Kaffee ausschließlich aus fairem Handel, mindestens die Hälfte der Hauptgerichte vegetarisch oder vegan, 10 Prozent weniger Speisenrückläufe und dazu ein kurzes Nachhaltigkeitsbriefing von 10 Minuten pro Woche, das kann jeder Betrieb machen. Ohne Mehrkosten. Wenn es gewollt wird.

Welche Rahmenbedingungen brauchen Küchen, um nachhaltig zu agieren? 
Ich glaube nicht, dass die derzeitigen Rahmenbedingungen Küchen daran hindern, sich nachhaltiger auszurichten. Aber es gibt einen Aspekt, der gerade in Deutschland sehr wichtig ist. Und das ist die Wertschätzung für gutes Essen. Mit Wertschätzung meine ich auch finanzielle Wertschätzung. Und mit „gut“ meine ich auch nachhaltig. Wenn wir als Gesellschaft nicht bereit sind, mehr Geld für gutes Essen auszugeben, wird es schwierig mit einer besseren, nachhaltigeren Gastronomie.

Herr Roehl, vielen Dank für das Gespräch.


ÜBER RAINER ROEL
Der Ernährungswissenschaftler und Unternehmer arbeitet seit gut 40 Jahren im Außer-Haus-Markt und für die Bio-Branche. In dieser Zeit hat er 1.000 Restaurants, Großküchen und Catering-Unternehmen bei der Entwicklung und Umsetzung einer gesundheitlich, ökologisch und wirtschaftlich nachhaltigen gastronomischen Dienstleistung begleitet. Ein Schwerpunkt seiner Arbeit ist die Begleitung von Ausschreibungen und Vergabeprozessen für Lebensmittel und für Catering-Dienstleistungen. Rainer Roehl ist Lehrbeauftragter der Fachhochschule Münster für das Fach „Nachhaltige Verpflegungsdienstleistungen“, Mitglied im Beirat des Deutschen Instituts für Gemeinschaftsgastronomie und Geschäftsführer eines Demeter-Hofes in der Nähe von Münster.
www.averdishome.wordpress.com 


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