Bundeskanzler Olaf Scholz hat Post bekommen. Vom Hotel Bareiss in Baiersbronn. Keinen Anruf, keine E-Mail, kein Fax. Nein. Einen Brief per Post. Auf edlem Papier, im Briefumschlag, frankiert mit Briefmarke, ganz analog. Enthalten ist keine Einladung zum Galadinner im exklusiven 3-Sternerestaurant des Bareiss, sondern ein Plädoyer. Ein Plädoyer mit elf guten Gründen für die dauerhafte Entfristung des Mehrwertsteuersatzes von 7 Prozent in der Gastronomie. Hier kommt der Wortlaut des Briefes.
Sehr geehrter Herr Bundeskanzler Scholz,
dankeschön zunächst fürs Verständnis, mit dem Sie uns Unternehmern der irrigerweise so genannten Tourismusindustrie in der Auseinandersetzung zur geplanten Erhöhung der Mehrwertsteuer auf Speisen und Getränke zuhören.
Die Gründe, warum diese geplante Erhöhung nicht nur für unsere Branche eine absehbare Katastrophe bedeutet, sind in ihrer Breite und Tiefe diskutiert und Ihnen bekannt. Wir fassen in Auswahl die in unserer Sicht wichtigsten Stichworte zusammen:
- Die Erhöhung der Mehrwertsteuer ist eine berechenbare Wettbewerbsverzerrung gegenüber anderen europäischen Ländern (Frankreich, Österreich, Niederlande, Polen, Schweiz), was Deutschland als Reiseland erheblich benachteiligt.
- Die aus bekannten Gründen immer noch zunehmend strapazierenden Kostensteigerungen (Energie, Lebensmittel) würden in einem weiteren Grad erhöht, der unseren stark auf handwerkliches Arbeiten fokussierten Betriebstypus an die Grenze seiner Wirtschaftlichkeit bringt. Wir sind eben keine Industriebetriebe, die sich im Hinblick auf human resources beliebig nach unten rationalisieren lassen.
- Corona ist für die gastronomische Branche nicht vorbei: Wir Unternehmer bedienen Kredite, die in den geplanten Budgets nicht vorgesehen waren mit der Folge für dagegen geplante Investitionen, die sich nunmehr nicht realisieren lassen mit entsprechenden Folgen für eine sich schon jetzt verschlechternde Auftragslage unserer Partner und Zulieferer.
- Mindestlohn und Tarifanpassungen haben das Lohnniveau der Mitarbeiter berechtigt wachsen lassen, die Unternehmen entsprechend belastet, mit wiederum entsprechender Höherkalkulierung der Preise für die Gäste.
- Die Gäste ihrerseits sind aufgrund von Inflation, gestiegener Energie- und Lebensmittelpreise in ihrem Konsumverhalten spürbarzurückhaltend. Die Umsätze in der Gastronomie sinken. Die Abwärtsentwicklung wird sich absehbar fortsetzen, wenn die Branche ihre Gäste am erhöhten Steuersatz kalkulatorisch unvermeidbar beteiligen muss.
- Die Qualität der gastronomischen Leistung wird sinken, wenn steigende Kosten über den Einkauf von "günstigeren" (= billigen = minderwertigeren) Produkten kompensiert werden. Das ist kontraproduktiv zur auch politisch gewollten und propagierten Produktion ethisch verantworteter Lebensmittel und einer gesünderen Ernährung. Qualität kostet Geld.
- An Ihre vor laufender Kamera am 7. September 2021 für dauerhaft zugesagte Entfristung der temporären Mehrwertsteuer werden Sie sich, sehr geehrter Herr Bundeskanzler, sicher erinnern. Wie Sie sich auch als ehemaliger Wirtschaftsminister der Vorgänger-Regierung nicht darüber zu belehren lassen brauchen, dass eine wettbewerbsfaire Besteuerung keine Subvention ist.
- Die Zahlen der coronabedingt geschlossenen Betriebe und die Erwartbarkeit der bei Erhöhung der Mehrwertsteuer fallierenden Unternehmen liegen vor (erfasste 36.000 aufgrund der Pandemie Maßnahmen, bzw. erwartete 12.000 im Fall der Erhöhung). Mit den Schließungen korrespondierend: der Ausfall an Steuereinnahmen.
- Betroffen ist die ganze Bandbreite der Branche, von der Imbiß"bude" bis zum Top-Restaurant.
- Der aus den genannten Gründen bereits eingetretene und sich fortsetzende Verlust des gastronomischen Angebots in seiner ganzen Vielfalt und Kultur ist ein Verlust an umsatzfördernder und imageprägender Attraktivität sowohl der heute schon darin geschädigten Innenstädte als auch des ländlichen Raums.
- Dass infolge der hier nicht vollständig genannten gravierenden Einwände ein großer Teil des Wirtschaftskreislaufs in Mitleidenschaft gezogen wird, ist evident.
Von den dargestellten hard facts abgesehen, wäre die geplante Erhöhung der Mehrwertsteuer, ist sie denn einmal beschlossene Sache, ein weiterer Ausdruck vom Standing, das unser gastgeberischer Beruf in der Politik hat: Er hat keins. Um einen Kollegen zu zitieren: „Deutsche Wirte haben wirklich genug gelitten und sollten nun endlich mal vom Staat mit etwas mehr Respekt behandelt werden."
Anders gesagt: „Ein Volk, das seine Wirte nicht ernähren kann, verdient nicht, eine Nation genannt zu werden." Nehmen wir fürs Volk auch seine politisch gewählten Vertreter in Haftung, behält Bismarck mit seinem Satz immer noch Recht. Oder auch erst recht.
Das Bareiss macht sich mit diesem Brief nicht zum Sprecher der Branche. Aber wir sprechen an, was nicht nur unser Unternehmen in seiner Wirtschaftlichkeit trifft, sondern ausnahmslos die jedes einzelnen gastronomischen Betriebs. Niemand von uns ist auf einem Gefilde der Seligen erfolgreich. Sondern auf einem Markt, dessen Funktionieren und Erfolg ein gesunder unternehmerischer Wettbewerb in eigener Verantwortung regelt, für den eine verhältnismäßige Ordnungs- und Wirtschaftspolitik die Rahmenbedingungen schafft.
Dies ist mit der geplanten Erhöhung der Mehrwertsteuer, die die Verhältnisse unseres Arbeitens missachtet, nicht nur nicht der Fall. Sie schafft Verhältnisse, die Unternehmen an den Rand ihres Existieren-Könnens bringen.
Unsere Argumentation und unsere Sorgen sind keine individuellen und vereinzelten, sie werden von vielen, sehr vielen Kollegen in ganz Deutschland geteilt. Ganz individuell und persönlich aber bitten wir Sie mit Nachdruck, nach Ihren Möglichkeiten auf die zugesagte Entfristung der temporären Mehrwertsteuersenkung hinzuwirken. Vielen Dank.
Mit vielem Dank auch für Ihr Zuhören und mit ganzem Respekt für Ihre politische, gewiss nicht immer leicht zu schulternde Verantwortung für das Wohlergehen von uns Bürgern – die in ihren Anliegen gern früher abgeholt werden möchten, als wenn sie für ihre Wählerstimmen gebraucht werden – grüßen Sie ebenso herzlich wie besorgt
gez. Hermann Bareiss , Britta und Hannes Bareiss
Mitteltal, 11. September 2023