"Vielstimmigkeit der Branche ist ein Problem"

Dr. Marcel Klinge: "Wir brauchen vor Ort mehr Kräftebündelung und gemeinsames Handeln." Foto: Klinge/Denkfabrik Zukunft Gastwelt
Redaktion 25.04.2024 MAGAZIN  |  Titelthema  |  Konzepte

Dr. Marcel Klinge, Vorstandsvorsitzender der „Denkfabrik Zukunft der Gastwelt (DZG)“, spricht im Interview über die Rahmenbedingungen, die das Gastgewerbe im ländlichen Raum prägen. Der Experte rät zu mehr Zusammenhalt und Einigkeit in der Branche. 

KÜCHE: Herr Dr. Klinge, inwiefern ist das Gastgewerbe im ländlichen Raum dem im urbanen überlegen – und wo hat es die „schlechteren Karten“?
DR. MARCEL KLINGE: Die Betriebe in den großen Metropolen setzen sicherlich viele Trends. Dort ist auch der Lieferservice als zusätzliche Absatzmöglichkeit einfacher, das gastronomische Angebot insgesamt vielleicht etwas internationaler. Aus meiner Sicht punkten aber die Betriebe im ländlichen Raum mit deutlich mehr Persönlichkeit, stärkerer Gästebindung und mit regionaler Qualitätsküche. Die meisten betriebswirtschaftlichen Herausforderungen teilen sich aber Restaurants in der Großstadt und auf dem Land: Steigende Einkaufs- und Energiekosten, anhaltend hohe Inflation, die Wiederanhebung der Umsatzsteuer auf Speisen zum Jahresbeginn 2024, Konsumzurückhaltung durch die allgemeine konjunkturelle Lage.

Im ländlichen Raum sind die Betriebe aber noch stärker vom Personal- und Nachwuchsmangel betroffen, da es vor allem junge Menschen in die Ballungsräume zieht und somit auf dem Land immer weniger potenzielle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zur Verfügung stehen. Dies verschärft den Wettbewerb um gute Arbeitskräfte. Niedrigere Mieten und Kaufpreise, mehr Natur und eine engere soziale Gemeinschaft auf dem Land bleiben bei all dem leider oft auf der Strecke. Das finde ich schade, denn der ländliche Raum wird bei uns immer noch etwas unterschätzt.

Sie haben es bereits angesprochen: Der Personalmangel belastet besonders die Betriebe im ländlichen Raum. Welche Maßnahmen empfiehlt die „Denkfabrik Zukunft Gastwelt“ (DZG), um die Situation zu entschärfen?
Der wichtigste Schritt ist zunächst einmal, dass wir das Problem überhaupt beziffern können. Sie werden lachen! Bis zu unserer jüngsten Fraunhofer-Studie „Next Work in the Gast-World“ konnte niemand – auch kein Verband – im Gastgewerbe verlässlich sagen, wie viele Menschen bis 2030 demografisch bedingt ausscheiden werden. Jetzt haben wir diese Daten endlich: Es sind bis zu 600.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die bis zum Ende des Jahrzehnts altersbedingt aus der Gastwelt ausscheiden werden. Wie hoch ist die Mitarbeiter-Fluktuation in der Hotellerie? Diese ist doppelt so hoch wie im bundesweiten Durchschnitt. Was kostet ein typisches Restaurant eine Kündigung? Es sind 48.000 Euro pro Jahr oder sechs Prozent vom Umsatz. Dafür haben wir dank neuer Studien nun endlich Antworten, die dabei helfen, mit effektiven Maßnahmen gegenzusteuern. Außerdem muss das Gastgewerbe dringend an seinem Image arbeiten und viel mehr über seine Erfolgsgeschichten sprechen. Wir brauchen endlich positives Storytelling, und das ist eine Kernaufgabe unserer branchenübergreifenden Denkfabrik.

Tourismusförderung und die Zukunft des Gastgewerbes im ländlichen Raum hängen eng zusammen. Welche Strategie empfehlen Sie?
Sie sprechen eine ganz zentrale Frage an, nämlich: Wie können wir die Tourismusförderung im ländlichen Raum spürbar verbessern und gleichzeitig eine weitere Belastung etwa der Hotellerie durch neue Abgaben verhindern? Genau dazu starten wir noch in diesem Jahr ein branchenübergreifendes Projekt, in dem wir ganz neu denken. Klar ist für mich aber, dass die Tourismusförderung eine sogenannte Pflichtaufgabe des Staates werden muss, weil sie für die Daseinsvorsorge und den Erhalt der Infrastruktur im ländlichen Raum absolut notwendig ist. Darüber hinaus brauchen wir vor Ort mehr Kräftebündelung und gemeinsames Handeln, bei dem sich Gemeinden, Städte und Regionen zu „Tourismus-Clustern“ zusammenschließen und diese gemeinsam vermarkten. Hier können wir zum Beispiel von Südtirol viel lernen.

Das Gastgewerbe im ländlichen Raum leidet ebenfalls stark unter der Rückkehr zu 19 Prozent Mehrwertsteuer. Wie stehen die Chancen, dass sich hier noch einmal etwas bewegt?
Die Wiederanhebung zum 1. Januar 2024 war für die gesamte Wertschöpfungskette ein harter Schlag. Obwohl die Branche insgesamt ein großartiges Engagement gezeigt hat, lief nicht alles optimal. Dazu haben wir auch eine umfangreiche DZG-Analyse veröffentlicht. Wichtig ist jetzt, dass wir unbedingt am Ball bleiben und das Thema kampagnentechnisch weiterbearbeiten. Aus unserer Sicht ist das nächste Zeitfenster für eine erfolgreiche und dauerhafte Senkung der Umsatzsteuer auf Speisen Anfang 2026, also nach der nächsten regulären Bundestagswahl. Wir wollen dazu eine neue, zentrale Kampagnenorganisation ins Leben rufen, die sich in den kommenden Monaten professionell und zielgerichtet um dieses strategische Top-Thema kümmert. So etwas neben dem Tagesgeschäft zu machen, funktioniert nicht.

Sie beklagen einen zu geringen Zusammenhalt innerhalb des Gastgewerbes. Wie kann der Zusammenhalt gestärkt werden?
Beklagen ist nicht das richtige Wort. Es ist vielmehr eine Tatsache, dass unsere Vielstimmigkeit sowie die fehlende Arbeitsteilung und strategische Koordinierung innerhalb der Verbändelandschaft dazu führt, dass wir in Berlin als „zersplittert“ und „kleinteilig“ wahrgenommen werden. Dieses Feedback erhalten wir immer wieder aus dem Bundestag und der Bundesregierung. Dieses „Problem“ hat viele Gründe. Wir sind aber in großen Teilen selbst an diesem Bild gegenüber der Politik verantwortlich. Ein Blick allein ins Lobbyregister zeigt bereits, dass wir mit 82 Organisationen und 29 Unternehmen aus den Bereichen Tourismus, Hospitality, Catering und Food-Service (Gastwelt) mit insgesamt 111 Akteuren sehr vielstimmig unterwegs sind. Daran müssen wir alle dringend arbeiten. Unsere Denkfabrik Gastwelt unternimmt dazu gemeinsam mit zehn weiteren Organisationen einen entsprechenden Vorstoß und hat für Ende April alle 82 Gastwelt-Organisationen zu einem Runden Tisch nach Berlin eingeladen. Auch wenn sicher nicht alle beim ersten Mal kommen werden, ist das doch ein vielversprechender Anfang.

Vor diesem Hintergrund braucht das Gastgewerbe im ländlichen Raum nicht unbedingt eine eigene Interessenvertretung, oder?
Eine weitere Vertretung für den ländlichen Raum ist vor diesem Hintergrund wohl nicht notwendig. Allerdings muss die Branche die spezifischen Anliegen und Probleme des ländlichen Raums viel stärker in ihre inhaltliche Arbeit einbeziehen. Dazu brauchen wir unbedingt mehr Unterstützung von Unternehmern und Führungskräften aus den entsprechenden Gebieten und Regionen.


Dr. Marcel Klinge 

Marcel Klinge (43) ist Mitbegründer und Vorstandsvorsitzender der „Denkfabrik Zukunft der Gastwelt“ (DZG). Die 2021 gegründete DZG versteht sich als erster Think Tank der Tourismus-, Hospitality- und Foodservice-Branche (Gastwelt) in Deutschland. Als unabhängige Organisation setzt sie sich für eine bessere politische Wahrnehmung der Branche ein, kämpft für ein eigenes Bundesministerium und zeigt mit Studien, Umfragen und Kampagnen die Systemrelevanz der Betriebe der Gastwelt auf. Inhaltlich beschäftigt sie sich vor allem mit strategischen Zukunftsthemen wie Mitarbeitergewinnung, Nachhaltigkeit, Ernährungswende und Mobilität. Klinge gehörte von 2017 bis 2021 dem Deutschen Bundestag an und war dort Mitglied in den Ausschüssen für Wirtschaft, Tourismus und Sport. Als tourismuspolitischer Sprecher der FDP setzte er sich besonders für die Belange mittelständischer Unternehmen ein.


Mehr zum Thema „Zukunft Gastgewerbe im ländlichen Raum“ lesen Sie in KÜCHE 5/2024, die am 7. Mai erscheint.